2006 Saratov
Rund um Saratov befand sich bis 1941 eines der großen Siedlungsgebiete von Deutschen in Russland. 1941 wurde die deutsche Bevölkerung nach Mittelasien und Sibirien deportiert und durfte bis in die siebziger Jahre nicht in ihre Herkunftsorte zurückkehren. In den siebziger bis neunziger Jahren übersiedelten dann wieder einige Zehntausend an die Wolga, allerdings nicht mehr wie früher in kompakten Dörfern, sondern zerstreut. Zwischen 1989 und 1992 sah es vorübergehend danach aus, als würde die russische Regierung den Forderungen der russlanddeutschen Autonomiebewegung entsprechen und eine Territorialautonomie an der Wolga einrichten. Diese Hoffnungen haben sich inzwischen zerschlagen, der Großteil der Deutschen ist nach Deutschland emigriert, aber die Spuren der Vergangenheit sind in der Region unübersehbar.
Die Exkursion fand in enger Kooperation mit der Staatlichen Universität Saratov statt, wo sich unter der Leitung von Professor Arkadij German vom Lehrstuhl für neueste russische Geschichte ein Zentrum für die Erforschung der Geschichte und Kultur der Wolgadeutschen konstituiert hat. In einer gemeinsamen Seminarsitzung konnten die deutschen und russischen Studierenden und Dozenten Erfahrungen austauschen.
Die Anreise erfolgte per Flugzeug von Stuttgart bis Moskau und von dort weiter siebzehn Stunden mit der Eisenbahn. Das „Sanatorium-Prophylaktorium“ der Universität, in dem die Exkursionsgruppe untergebracht war, bildete für eine knappe Woche den Ausgangspunkt für Besichtigungen und Gespräche in Saratov selbst sowie für Ausflüge in die nähere Umgebung.
Die Exkursanten fuhren über die mehrere Kilometer breite Wolga nach Engels, das 1924 bis 1941 als Hauptstadt der ASSR der Wolgadeutschen fungierte, und besuchten dort das Archiv der Wolgadeutschen, das landeskundliche Museum, in dem eine thematisch einschlägige Abteilung eingerichtet wurde, sowie eines der zahlreichen mit bundesdeutschen und russischen Mitteln finanzierten deutsch-russischen Begegnungszentren.
Ein Tagesausflug führte in das Städtchen Marx an der Wolga, wo die Seminarteilnehmer/innen mit dem Pastor der lutherischen Kirche sprechen konnten, die – ohne Turm und in desolatem Zustand – nach jahrzehntelanger Zweckentfremdung wieder der Gemeinde zurückgegeben worden ist. Anschließend gab es im russisch-deutschen Kulturzentrum ein vormittägliches Live-Rockkonzert einer örtlichen Band und recht ernüchternde Gespräche mit den Jugendlichen über die Lebensverhältnisse in der Provinz.
Einprägsam war die Weiterfahrt in das etwa 80 Kilometer östlich von Saratov liegende Dorf „Steppe“ (Stepnoje), das Anfang der neunziger Jahre mit bundesdeutscher Unterstützung gegründet worden war, um Übersiedlern aus Kasachstan eine „Insel der Hoffnung“ als Alternative zur Ausreise nach Deutschland zu bieten. Die „Insel der Hoffnung“ entwickelte sich bald zu einer großen Misere, weil es keine Arbeitsplätze, keine vernünftige Grundlage für Landwirtschaft, ja nicht einmal genug Trinkwasser, dafür aber ein massives Alkoholproblem gibt.
Der dritte Tagesausflug führte die Exkursion auf die sog. „Bergseite“ der Wolga in die ehemaligen Kolonien Schilling (Sosnovka), Beidek (Luganskoe) und Balzer (Krasnoarmejsk). Man sah alte Bauernhäuser in Holz- und Steinbauweise neben verlassenen Ruinen und verfallenen Kolchosanlagen, den Überrest einer ehemals imposanten Dorfkirche neben trostlosen Plattenbauten. Spürbar war aber auch – wie in den anderen Stationen der Reise – ein großes Interesse der Museums- und Archivleiterinnen an der Bewahrung und öffentlichen Präsentation des deutschen Anteils an der lokalen Geschichte.
Der letzte Tag in Saratov brachte ein überaus aufschlußreiches Gespräch mit dem dortigen katholischen Bischof Clemens Pickel. Sein Bistum wurde in den neunziger Jahren eingerichtet, ist viermal so groß wie die Bundesrepublik Deutschland, aber von den 42 Millionen Einwohnern sind nur 21.000 Katholiken, die über Tausende Kilometer verstreut leben. Was der Bischof aus seiner Zeit als Pfarrer im Dorf „Steppe“, aber auch aus anderen Erfahrungen zu berichten wußte, war beeindruckend und beklemmend zugleich.
Nach der [nur vierzehnstündigen] Rückfahrt nach Moskau verbrachte die Seminargruppe dort einen knappen Tag mit Besichtigungen und flug von dort wieder zurück nach Deutschland.
Was die Exkursionsteilnehmer in den Städten und Dörfern, die sie besuchten, an Eindrücken und Informationen aufnahmen, war reichhaltig, bewegend und irritierend. Es war dies eine Exkursion, auf der eine Seminargruppe nicht nur Schauplätze aufgesucht und die dazugehörige Geschichte in Erinnerung gerufen, sondern auf der alle Neues entdeckt und ihren Erfahrungshorizont erweitert haben. So manches, was aus der Lektüre und den Diskussionen im Seminar bekannt war, erwies sich in der Realität dann doch als befremdlich.
Das beginnt schon mit der Frage, wer denn heute überhaupt ein Russlanddeutscher sei. Dass es bei den Russlanddeutschen eine große Diskrepanz zwischen der ethnischen Selbstzuordnung und der Muttersprache gibt, ist seit langem bekannt. Die Diskriminierung und die Zerstreuung seit der Deportation 1941 hatten bei den Deutschen in der Sowjetunion zum fortschreitenden Verlust der deutschen Sprache geführt. Nationale Identität und Muttersprache fallen bei den Russlanddeutschen meistens nicht zusammen.
In der direkten Begegnung mit den Menschen war dieses Phänomen dann doch immer wieder aufs Neue irritierend. Von einer „aufgesetzten deutschen Folklore“ sprach einer der Gesprächspartner in Saratov – und er hat zweifellos Recht: Was dem Besucher in den deutsch-russischen Begegnungsstätten und Kulturzentren an Trachten, Liedern und Brauchtum präsentiert wird, ist keine gewachsene russlanddeutsche Kulturtradition, sondern etwas, was man seit den neunziger Jahren aus Deutschland nach Russland gebracht hat. Es ist der Versuch, den durch die Deportation und die Zerstörung der Dorfgemeinschaften verursachten Sprach- und Traditionsverlust zu kompensieren und Menschen bei der Suche nach ihrer deutschen Identität zu helfen bzw. ihnen eine neue kulturelle Identität zu vermitteln.